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Unterabschnitte

2.7 Streß

2.7.1 Ursache und Wirkung

Entwicklungsgeschichtlich ist Streß eine körperliche Reaktion, die dazu dient, gefährliche Situationen besser zu bewältigen. Durch komplexe physiologische Maßnahmen wird der Körper in einen Kampf-oder-Flucht-Zustand gebracht, in dem die körperliche Leistungsfähigkeit stark erhöht ist. Die physiologischen Abläufe im Streßzustand sind zwar für den Körper schädlich, aber das macht nichts, solange Streßsituationen nur kurz andauern und nicht sehr häufig auftreten.

Der moderne Mensch ist jedoch mittlerweile oftmals Streßsituationen ausgesetzt, die lange anhalten und sehr häufig auftreten. Zu den daraus resultierenden langfristigen Gesundheitsschädigungen gehören hoher Blutdruck, erhöhte Neigung zu Diabetes, Herzgefäßverengung und Magengeschwüren und vermutlich sogar stärkere Gedächtnisschwäche im Alter.

2.7.2 Streßvermeidung

Das Maß, in dem eine averse Situation (ein ,,Stressor``) Streß auslöst, hängt von mehreren Faktoren ab: Der Situationswahrnehmung durch den Betroffenen, die emotionale Reaktionsbereitschaft, dem Maß, in dem Kontrolle über die Situation ausgeübt werden kann, und der Vorhersehbarkeit der Situation. Außerdem kann man natürlich versuchen, das Auftreten von Stressoren überhaupt zu reduzieren.

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Alle fünf Faktoren lassen sich im Prinzip nutzen, um gezielt Streß zu vermindern. Die Wahrnehmung und Reaktionsbereitschaft sind Persönlichkeitseigenschaften, die durch geeignete Schulung entschärft werden können (wobei noch niemand genau weiß, wie man das am besten anfängt). Dagegen sind das Auftreten von Stressoren und das Maß verfügbarer Kontrolle organisatorische Randbedingungen, die sich in einer Softwareorganisation optimieren lassen. So entsteht zum Beispiel viel Streß, wenn eine Person ein Problem lösen soll, aber nicht über die Kompetenzen verfügt, alle dazu nötigen Maßnahmen auszuführen oder einzuleiten, z.B. wegen einer zu rigiden Dokumentenverwaltung. Eine solche Organisation wird auf die Dauer je nach der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen entweder zu Streßkrankheiten führen oder zum Absinken der Motivation und zur Gleichgültigkeit -- also Streßvermeidung durch Änderung der Reaktionsbereitschaft.

2.7.3 Umgang mit Streß

Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Arten des Umgangs mit Streß: problemorientiert oder emotionsorientiert.

Der problemorientierte Umgang mit Streß erfolgt durch Anwendung zumindest einiger der folgenden Schritte: Definition des Problems, Entwicklung mehrerer alternativer Lösungsideen, Abwägung zwischen diesen in Bezug auf Kosten und Nutzen, Auswahl einer Idee und Umsetzung einer Idee. Diese Strategie kann auch nach innen gerichtet sein, also das zu lösende Problem in einer erwünschten Persönlichkeits- oder Verhaltensänderung sehen, z.B. die Umlenkung des Ehrgeizes auf andere Ziele oder die Anhebung oder Absenkung gewisser Ansprüche an sich selbst. In Längsschnittstudien (d.h. Beobachtung über längere Zeit statt nur punktuell) wurde nachgewiesen, daß problemorientierter Umgang mit Streß zu kürzeren Phasen von Bedrückung führt.

Emotionsorientierter Umgang mit Streß versucht zu verhindern, von den Gefühlen überwältigt zu werden, die der Streß auslöst. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Strategien, z.B.

1.
Verhaltensstrategien sind alle, die Aktivitäten bewirken, z.B. Sport treiben, Drogenmißbrauch oder Hilfesuche bei Freunden. ../Cartoon/red_white_brown_blobs.gif
2.
Kognitive Strategien zeigen demgegenüber kaum äußerliche Aktivität. Hierzu gehören das bewußte Wegschieben des Problems (,,Es ist nicht wert, daß ich darüber nachdenke.``) oder eine Uminterpretation der Bedeutung (,,Eigentlich ist es ja gar nicht so schlimm.``)
3.
Grüblerische Strategien bedeuten ein volles Eintauchen in das Problem mit intensivem Nachdenken oder Sprechen darüber, wie schlecht man sich fühlt und was noch alles weiterhin schlecht sein kann und wird.
4.
Ablenkungsstrategien sind positive Verhaltensstrategien wie Sport treiben oder ins Kino gehen, die vom Problem wegführen.
5.
Negative Vermeidungsstrategien sind hingegen vom Problem wegführende Strategien, die neue negative Folgen nach sich ziehen, z.B. Drogenmißbrauch, gefährliche Unternehmungen oder aggressives Verhalten.

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Die Wahl zwischen problemorientiertem und emotionsorientiertem Umgang mit Streß ist überwiegend eine Frage der Persönlichkeit, kann aber auch von der jeweiligen Situation abhängen. So ist emotionsorientierter Umgang die einzige Lösung, wenn das Problem unbeeinflußbar ist, z.B. schon komplett abgeschlossen, und wird auch immer dann bevorzugt, wenn die Erfahrungen lehren, daß ein Versuch zur konkreten Problemlösung wahrscheinlich nicht erfolgreich sein wird.

Nicht nur, aber auch für den Bereich der Softwaretechnik gilt, daß problemorientierter Umgang mit Streß eine Fertigkeit ist, die man erlernen und üben kann und sollte -- zumal die Vorgehensweise dabei dem Softwarelebenszyklus wirklich frappierend ähnlich sieht.


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Lutz Prechelt
1999-04-13