Die Aktivitäten eines Menschen werden wesentlich von seinen Bedürfnissen und Motivationen geprägt. Neben den Grundbedürfnissen, die durch Triebe realisiert werden, gibt es eine Reihe von sozialen Bedürfnissen, die darüber liegen und für uns von Interesse sind. Der Antrieb zur Befriedigung dieser Bedürfnisse wird durch Motivationen hergestellt.
Motivation im psychologischen Sinne ist also nicht das, was dieses Wort zumeist im Zusammenhang mit Berufsausübung bedeutet. Üblicherweise wird unter Motivation eine hohe Bereitschaft zur Leistungserbringung im Sinne eines betriebswirtschaftlichen Nutzenbegriffs verstanden. Demgegenüber steht der psychologische Motivationsbegriff für einen Drang zu Aktivität, ob sie nun betriebswirtschaftlich nützlich ist oder nicht. Der psychologische Motivationsbegriff hat also betriebswirtschaftlich gesehen nicht an sich eine positive Nebenbedeutung, sondern ist neutral: hohe Motivation kann gut sein, aber auch schlecht; je nachdem, wie sie sich konkret auswirkt.
Motivationen entstammen verschiedenen Quellen:
Alle diese Motivationsarten sind grundsätzlich in jedem Menschen vorhanden. Die Stärke einzelner Arten ist aber von Person zu Person unterschiedlich und hat die Eigenschaften eines Charakterzugs, kann also als weitgehend konstant angesehen werden. Die Stärke einer Motivation in einem konkreten Einzelfall setzt sich aber über diese Grundmotivation hinaus aus zwei weiteren Faktoren zusammen: Den Erfolgsaussichten und dem subjektiven Wert eines Ziels.
So mag beispielsweise, gegeben eine erhebliche Ehrgeiz-Grundmotivation, der subjektive Wert eines Nobelpreises für mich sehr hoch sein; dennoch ist meine Motivation, nach ihm zu streben, gering, wenn ich meine Erfolgsaussichten als verschwindend klein einstufe. Umgekehrt kann ich die Erfolgsaussichten des Unterfangens, die Seiten 45 bis 50 des Karlsruher Telefonbuchs komplett auswendig zu lernen, durchaus als hoch einstufen und bin dennoch kaum motiviert, das zu versuchen, weil der subjektive Wert einer solchen Tat zu nahe bei Null liegt. Schließlich könnten sowohl die Erfolgsaussichten als auch der subjektive Wert des Ziels, eine Firmenabteilung mit über hundert Mitarbeitern zu leiten, hoch sein und dennoch die Motivation gering, es anzustreben, weil die Grundmotivation zur Machtausübung klein ist.
Für die Softwaretechnik ist die Beobachtung von Belang, daß sich sowohl die Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Menschen für ein Ziel als auch der subjektive Wert dieses Ziels für diesen Menschen von außen beeinflussen lassen: Ersteres durch entsprechenden Zuspruch (,,Ich traue Ihnen das ohne weiteres zu.``), durch Bereitstellung von Hilfe oder durch Ausbildung, letzteres durch Aussicht auf Belohnung. Die Stärke von Motivation ist also einem gezielten Management in gewissem Rahmen durchaus zugänglich. Kern solcher Maßnahmen sollte aber in jedem Fall die möglichst genaue Einschätzung der schwer veränderlichen Grundmotivation sein -- insbesondere der eigenen.
Der am stärksten variable der drei Motivationsfaktoren ist meist der subjektive Wert. Dieser kann nämlich durch das Eintreten oder Ausbleiben einer Belohnung (externen Bestärkung) in früheren ähnlichen Situationen schneller und stärker geändert werden als die Erfolgsaussichten oder gar die Grundmotivation.
Es gibt eine Reihe von psychologischen Erkenntnissen über Effekte in diesem Zusammenhang:
Um wieder einmal die softwaretechnische Brille aufzusetzen: Aufgrund der individuellen Motivationsunterschiede eignen sich vermutlich verschiedene Personen unterschiedlich gut für verschiedene Aufgaben innerhalb der Softwaretechnik. Es empfiehlt sich, diese Eignung möglichst gezielt zu berücksichtigen. Auch einige andere Auswirkungen der verschiedenen Motivationsarten gilt es zu bedenken.
Neugier. So sind Personen mit hoher Neugier gut geeignet zur Entwicklung von Prototypen: in kurzer Zeit schnell viel Neues erschaffen. Auch das freudige Ausloten unterschiedlicher Entwurfsmöglichkeiten gehört zu ihren Stärken. Demgegenüber sind weniger neugierige Personen gut geeignet für Aufgaben, die eine hohe Sorgfalt und Ruhe erfordern. Beispiele wären das Testen oder die Erstellung von Dokumentation.
Für die meisten Aufgaben dürfte eine gute Mischung von Personen dieser beiden Typen die besten Ergebnisse bringen, weil sich dann die spezifischen Nachteile beider Typen am ehesten kompensieren lassen. Dies gilt vermutlich besonders für die Anforderungsanalyse, bei der sowohl Neugier als auch Sorgfalt in besonders hohem Maße benötigt wird.
Soziale Bedürfnisse. In der Anforderungsanalyse kommen Menschen mit hohen sozialen Bedürfnissen besonders effektiv zum Zuge. Sie verfügen meist auch über besser ausgebildete soziale Kompetenzen und sind deshalb besonders geeignet, gefährliche Fehler wegen aufgrund mangelnder Akzeptanz unzureichender Kommunikation vermeiden zu helfen, die in der Anforderungsanalyse besonders leicht vorkommen.
Ehrgeiz. Hoher Ehrgeiz ist natürlich in der Softwaretechnik grundsätzlich hilfreich, jedoch müssen die Belohnungen sorgfältig darauf abgestimmt werden, daß der Ehrgeiz nicht dem Gesamtunterfangen zuwiderläuft. Extrem gefährlich sind zum Beispiel Belohnungssysteme, die auf formalen Produktivitätsbegriffen basieren (wie z.B. abgelieferte Zeilen Code pro Tag) oder solche, die die Teamhaftigkeit von Softwareproduktion unterlaufen, indem sie z.B. das Hin- und Herschieben von Schuld an irgendwelchen Mängeln herausfordern.
Machtstreben. Wegen des Teamcharakters von Softwareproduktion ist das Machtstreben eine grundsätzlich hinderliche Motivationsart. Es gibt jedoch Möglichkeiten, das Machtstreben in ungefährliche, eventuell sogar nützliche Bahnen zu lenken. Die wichtigste dieser Möglichkeiten ist die Erhöhung der Kontrolle jedes einzelnen über seine unmittelbare Arbeitsumgebung (ausgenommen die Menschen). Eine hohe Kontrolle impliziert nämlich zugleich eine hohe Verantwortung und kann bei entsprechender Führung bewirken, daß weniger oft etwas Richtiges oder Notwendiges nur deshalb nicht getan wird, weil sich niemand zuständig fühlt.
Diese Fragen sind, wie auch sehr viele andere, im Rahmen der Softwaretechnik bislang praktisch überhaupt nicht erforscht worden, so daß die obigen Überlegungen lediglich eine plausible Spekulation darstellen. Forschungsfelder für psychologisch interessierte Softwaretechniker oder softwaretechnisch interessierte Psychologen gibt es in Hülle und Fülle.