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Unterabschnitte

2.5 Sprache, Denken, Problemlösen

In diesem Abschnitt werden viele der in den Abschnitten Lernen und Gedächtnis besprochenen Aspekte wieder auftreten. Dennoch ist eine separate Betrachtung von Sprache in unserem Zusammenhang sinnvoll, weil die Informatik und damit auch die Softwaretechnik sich zu einem großen Teil um die künstliche Erschaffung und die Benutzung von Sprachen dreht. Deshalb ist es sehr nützlich, etwas über die psychologische Funktionsweise natürlicher Sprache und den Zusammenhang von Sprache und Denken zu wissen.

2.5.1 Arten des Denkens

Zum Zwecke einer klareren Begriffsbildung kann man drei Arten des Denkens unterscheiden: Das Aussagendenken korrespondiert zu dem Strom sprachlicher Sätze, den wir im Geiste zu hören scheinen. Das Vorstellungsdenken korrespondiert zum geistigen ,,Sehen``, und schließlich korrespondiert das motorische Denken zu Folgen im Geiste vorgenommener Bewegungen. Diese drei Arten gehen nahtlos ineinander über und lassen sich nicht immer klar trennen. Wir wollen uns in diesem Kapitel jedoch hauptsächlich mit dem Aussagendenken befassen.

2.5.2 Konzepte als Basis von Sprache und Denken

Eine Aussage postuliert eine Beziehung zwischen Objekten oder Klassen von Objekten, z.B. ,,Der Befehl rm löscht eine Datei.`` Im Mittelpunkt einer Aussage stehen also die Konzepte, welche die betroffenen Objekte beschreiben (im Beispiel Befehl und Datei). Die Beziehungen sind ebenfalls Konzepte (im Beispiel das Löschen).

Konzepte ermöglichen eine Art von kognitiver Sparsamkeit: Dadurch, daß wir Klassen von Objekten oder Beziehungen bilden, müssen wir nicht mehr jedes einzelne Objekt oder jede einzelne Beziehung bezeichnen, was verhindert, daß das Begriffsuniversum zu nicht mehr handhabbarer Größe explodiert. Die Welt wird durch Konzepte in Teile von handhabbarer Größe zerlegt.

Ein Konzept umfaßt die Menge aller Eigenschaften, die wir mit der Objektklasse, Beziehungsklasse oder Eigenschaftsklasse verbinden, und ist insofern auch ein mächtiges Mittel zur Abkürzung von Beschreibungen. Jedes Objekt, das zu einem Konzept gehört, nennen wir ein Exemplar des Konzepts oder auch eine Instanz des Konzepts.

Sprachlich finden wir, vereinfacht ausgedrückt, Objektkonzepte (Gegenstände, Abstraktionen) in Form von Substantiven, Beziehungskonzepte (Zustände, Vorgänge) in Form von Verben und Eigenschaftskonzepte in Form von Adjektiven und Adverben. Konzepte bilden also die inhaltliche Basis der Sprache; abgesehen von einigen grammatikalischen Regeln, die unmittelbar für die Sinnbildung wichtig sind, ist der Rest nur noch Syntax.

Müssen wir ein einzelnes Objekt bezeichnen, anstatt einer Objektklasse, so können wir dies mit Hilfe eines Namens tun (im Beispiel rm). Die Übereinstimmung (Identität) von Objekten, ob benannt oder nicht, wird dann mit Hilfe der bestimmten Artikel oder von Pronomen ausgedrückt.

Die Zuweisung eines Objekts zu einem Konzept bezeichnet man als Kategorisierung. Diese ist eine der wichtigsten kognitiven Grundoperationen. Wenn wir ein Objekt aufgrund seiner bisher wahrgenommenen Eigenschaften kategorisieren, weisen wir ihm damit implizit auch alle anderen Eigenschaften zu, die dem Konzept zukommen, obwohl wir diese am Objekt noch gar nicht wahrgenommen haben und oft auch niemals wahrnehmen werden. Insofern ist mit jeder Kategorisierung ein Informationsgewinn verbunden. Aus diesem Grund liegt im Vorgang der Kategorisierung aber auch ein erhöhtes Fehlerrisiko: Nach einer falschen Kategorisierung werden wir durch unser Wissen über das Konzept zu Fehlannahmen verleitet, die ganz ohne eine Kategorisierung nicht auftreten würden.

Dieser Effekt macht klar, daß im Rahmen der Softwaretechnik einer sorgfältigen und klaren Konzeptbildung und Vorsicht beim Kategorisieren allergrößte Wichtigkeit zukommt. Ein sehr großer Teil der Fehler in fast allen Phasen der Softwareentwicklung, besonders aber im Entwurf, lässt sich auf unklare Konzeptbildung oder falsche Kategorisierung zurückführen.

2.5.3 Struktur von Konzepten: Prototypen und Kerne

Die mit einem Konzept verbundenen Eigenschaften fallen in zwei nicht disjunkte Mengen. Zum einen die Menge der Eigenschaften, die den Prototyp des Konzepts bildet. Darin befinden sich alle Eigenschaften, die für Exemplare des Konzepts als typisch zu betrachten sind. Der Prototyp ist das, was uns in den Sinn kommt, wenn wir allgemein an das Konzept denken. Für das Konzept ,,Computer`` könnten dazu zum Beispiel diverse Einzelteile wie Hauptplatine, Bildschirm, Tastatur, Gehäuse, Platte gehören, sowie die Eigenschaften ,,hat Betriebssystem`` und ,,kann Programme ausführen`` etc. Nicht alle Eigenschaften des Prototyps treffen jedoch auf jedes Exemplar des Konzepts zu.

Eine andere Menge von Eigenschaften bildet die Essenz des Konzepts. Diese Menge nennen wir seinen Kern. Alle Eigenschaften des Kerns treffen auf jedes Exemplar des Konzepts zu, sind also notwendig. Sie sind außerdem hinreichend, um eine Mitgliedschaft im Konzept festzustellen. Sehr oft, aber nicht immer, ist der Kern ein Teil des Prototyps. Für das Konzept ,,Vogel`` gehören z.B. zum Prototyp nur Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen, der Kern wird jedoch über die Genetik definiert. Im Falle des Computers gehören zum Kern wohl nur das Vorhandensein von Speicher und von Prozessor oder Prozessoräquivalent. Genauer sollte man jedoch von einem digitalen Computer sprechen, und dann handelt es sich um digitalen Speicher und einen digitalen, deterministischen Prozessor. Mit einer anderen Definition hat man nämlich wahrscheinlich ein unscharfes und damit fehlerprovozierendes Konzept gebildet.

Wann sind Konzepte unscharf? Um zu prüfen, ob ein Objekt zu einem Konzept gehört, müssen wir im Prinzip prüfen, ob alle Eigenschaften des Konzeptkerns vom Objekt erfüllt werden. Ist dies bequem möglich, so sprechen wir von einem klassischen Konzept. Bei vielen Konzepten macht eine solche Prüfung jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Wir ersetzen dann die Prüfung des Kerns durch eine Prüfung auf ``genügende'' Ähnlichkeit mit dem Prototyp. Solche Konzepte nennen wir unscharfe Konzepte.

Nach dieser Definition sind übrigens die Konzepte, die durch die sogenannte unscharfe Logik (Fuzzy Logic) beschrieben werden, stets klassische Konzepte, denn Exemplare werden durch eine mathematisch wohldefinierte Methode eindeutig gegen eine Kernanforderung auf Mitgliedschaft im Konzept geprüft. In der realen Welt sind dagegen fast alle Konzepte unscharf, meist weil überhaupt keine präzise Definition ihres Kerns vorliegt.

Tatsächlich unscharfe Konzepte sollten in der Softwaretechnik so weit es geht vermieden werden; stattdessen ist immer eine exakte Definition anzustreben. Wo das nicht geht, sollten unscharfe Konzepte, z.B. in einem Pflichtenheft oder einem vorläufigen Entwurf, stets deutlich als solche gekennzeichnet werden, um die mit der Unschärfe verbundenen begrifflichen Fallen (voreilige Schlüsse aus einer Kategorisierung) besser vermeiden zu können.

2.5.4 Erwerb von Konzepten

Beim Erlernen von Konzepten kann man unterscheiden zwischen dem Erwerb eines Prototyps und dem Erwerb eines Kerns. Kerne sind üblicherweise das, was beim expliziten Lehren übermittelt wird. Demgegenüber lernen wir beim Lernen aus Erfahrung auch und vor allem einen Prototyp.

In beiden Fällen muß der jeweils fehlende Teil irgendwann ergänzt werden. Ein explizit gelernter Kern wird nach und nach durch Erfahrung um einen zugehörigen Prototypen erweitert und beim Lernen aus Erfahrung kann irgendwann aus den Erfahrungen der Kern des Konzepts herausdestilliert werden -- zumindest bei klassischen Konzepten.

Für die Softwaretechnik ist es wichtig, in der Lernphase zu wissen, wieviel von welchen Teilen der Konzeptbeschreibung man vermutlich schon erworben hat. Für den Kern muß man sich fragen, wie vollständig man ihn bereits erfaßt hat und ob diese Erfassung korrekt ist; für den Prototyp muß man sich fragen, wie genau er bisher ist.

Für das Lernen von Konzepten aus Erfahrung gibt es drei unterschiedliche Strategien:

1.
Die Exemplarstrategie speichert alle bislang aufgetretenen Exemplare des Konzepts ab und bestimmt das Konzept eines neuen Objekts durch eine Suche nach der Exemplarmenge, deren Exemplare im Mittel die größte Ähnlichkeit zum neuen Objekt aufweisen. Diese Strategie hat den Vorzug, nur sehr wenig Weltwissen zu benötigen: Es ist lediglich zu klären, welches die geeignetsten Ähnlichkeitsmaße sind.
2.
Beim Hypothesentesten wird ebenfalls eine Sammlung bisher bekannter Exemplare angelegt, diese dann jedoch in anderer Weise verwendet: Es werden einige Exemplare nach systematischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden untersucht. Aus diesen werden Hypothesen über die Eigenschaften hergeleitet, die das Konzept ausmachen. Diese Hypothesen werden dann anhand der übrigen Exemplare geprüft und entweder akzeptiert oder verworfen. Beim Verwerfen kann die Abweichung vom Erwarteten oft zu einer Modifikation der Hypothese benutzt werden.
3.
Beim Top-Down-Lernen werden die beiden obigen Strategien ebenfalls eingesetzt, jedoch erweitert um die Anwendung von Vorwissen. Dieses Vorwissen beschreibt zum Beispiel, welche Arten von Ähnlichkeitsmaßen erfolgversprechend sind oder nicht (z.B. ,,Farbe ist meist nicht aussagekräftig, wenn es sich um künstliche Gegenstände handelt.``) oder welche Arten von Hypothesen untersucht werden sollten (z.B. ,,Wenn es um Tiere geht, achte auf die Art der Oberfläche (Federn, Haut, Haare etc.)``).
Das Top-Down-Lernen ist weitaus am mächtigsten, da es durch Wissenstransfer von bereits bekannten Konzepten erlaubt, schon aus einer sehr kleinen Zahl von Beispielen eine sehr genaue Konzeptbeschreibung herzuleiten. Es birgt jedoch aufgrund eben dieser Mächtigkeit auch die Möglichkeit zu besonders krassen Fehleinschätzungen, wenn nämlich eine der eingebrachten Annahmen und damit ein großer Teil des eingebrachten Wissens falsch sind.

In der Softwaretechnik sollte deshalb in kritischen Fällen möglichst eine bewußte Auswahl zwischen den Konzepterwerbsmethoden getroffen und ggf. das Top-Down-Lernen nur mit Vorsicht eingesetzt werden. Zum Beispiel handelt es sich beim Einkreisen eines Programmfehlers mittels Debugging je nach Vorgehensweise anfänglich um einen Konzepterwerb, nämlich dann, wenn die Frage lautet ,,Unter welchen Umständen tritt der Fehler auf¿`. In diesem Fall kann eine verfrühte Anwendung der Top-Down-Methode völlig in die Irre führen, indem Ergebnisse einzelner Testläufe überinterpretiert werden und daraufhin die Suche zu früh auf einen (dann falschen) Programmbereich eingeengt wird. Stattdessen sollten die Gefahren der Überinterpretation bewußt wahrgenommen und eine ausreichend lange Zeit ausschließlich mit der Methode des Hypothesentestens gearbeitet werden. Ähnliche Verfahrensregeln sollte man beim Erlernen von sehr neuartigen Konzepten benutzen, z.B. wenn es um das Konzept ,,günstige Anwendungsfälle für Vererbung`` geht und noch wenig Erfahrung mit dem Konzept der Vererbung vorliegt. Die Nichtbeachtung der Regeln in genau diesem Fall beschert derzeit der softwaretechnischen Praxis eine wundervolle neue Ladung zukünftiger unwartbarer Altlasten.

2.5.5 Schließen

Konzepte bilden auch die Basis für logisches Schließen, denn sie liefern zu Objekten die Eigenschaften, aufgrund derer Schlüsse gemacht werden können.

2.5.5.1 Taxonomien

Den einfachsten Fall des Schließens liefert die Anwendung von Taxonomien. Die wichtigste Taxonomie ist die Ordnung nach Ober- und Unterkonzepten, wobei ein Unterkonzept einfach eine Teilmenge der Objektklasse des Oberkonzepts ist. Eine solche Taxonomie ermöglicht sehr einfache deduktive Schlüsse aufgrund der Tatsache, daß alle Eigenschaften eines Konzepts wegen der Teilmengenbeziehung für Unterkonzepte ebenfalls gelten.

Eine immer noch nicht ausgerottete Verwechslung in der Softwaretechnik ist der Glaube, die Vererbungshierarchie beim objektorientierten Programmieren beschreibe eine solche ,,ist ein``-Hierarchie. Das ist nicht richtig. Technisch bedeutet die Vererbung in den heute üblichen oo-Sprachen eine Typerweiterung und Verhaltensmodifikation. Dabei müssen die Eigenschaften eines Obertyps im Untertyp nicht erhalten bleiben. Ein sehr einfaches Beispiel sind die Klassen ,,Rechteck`` und ,,Quadrat``. Zwar ist Quadrat ein Unterkonzept von Rechteck, jedoch wird zur Darstellung eines Rechtecks die Länge von zwei Seiten benötigt, was zur Modellierung eines Quadrats zumindest unnatürlich ist und dem Verfahren der Typerweiterung in Unterklassen direkt zuwiderläuft. Ein Operationenpaar setzeLänge und setzeBreite, welches zusichert, daß die jeweils andere Seitenlänge konstant bleibt, darf in der Quadratklasse nicht erhalten bleiben, weil sonst Quadratinstanzen die Quadrateigenschaft verlieren können. In diesem Fall macht also die Unterklasse nicht alle Zusicherungen der Oberklasse und verletzt damit die ,,ist ein``-Hierarchie.

Andere Taxonomien von nicht so großem praktischen Wert für das Schließen können über andere Beziehungen gebildet werden, z.B. ,,ist ein Teil von`` (Teil-Ganzes-Relation) oder ,,zieht nach sich`` (Kausalkettenrelation).

2.5.5.2 Deduktives Schließen

Das deduktive Schließen ist Informatikern aus ihrer Ausbildung hinreichend bekannt, samt der erheblichen Schwierigkeiten, es immer korrekt zu machen. Interessant ist jedoch die psychologische Beobachtung, daß die Fehlerquote erheblich vom Inhalt des Schlusses beeinflußt wird, obwohl das deduktive Schließen im Prinzip eine rein formale, also inhaltsunabhängige Technik ist.

Betrachten wir als Beispiel dazu die Abbildung 2.2. Im oberen Teil sehen wir Version 1 eines Testproblems. Die Testpersonen bekamen gesagt, die eine Seite jeder Karte enthielte einen Buchstaben und die andere eine Zahl. Sie wurden gefragt, welche Karten man umdrehen müsse, um die Aussage zu prüfen ,,Wenn eine Karte einen Vokal auf der einen Seite hat, steht eine gerade Zahl auf der anderen.``

\includegraphics[scale=1]{Bild/psychdedukt.ps}

Die Häufigkeit falscher Antworten für dieses Problem nahm erheblich ab, wenn man das Problem wie in Version 2 umformulierte: Eine Seite jeder Karte enthält ein Getränk, die andere Seite die Altersangabe für die zum Getränk gehörige Person. Welche Karten muß man umdrehen, um die Aussage zu prüfen ,,Wenn eine Person Bier trinkt, so ist sie mindestens 18 Jahre alt.`` Diese zweite Fassung ist exakt äquivalent zur ersten, dennoch treten bei der Beantwortung seltener Fehler auf. (Die richtigen Antworten lauten übrigens E und 7 beziehungsweise Bier und 16.)

Wie kommt es zu solcher Inhaltsabhängigkeit? Es gibt zwei Möglichkeiten, wie dies zustande kommen kann. Die erste ist die Anwendung pragmatischer Regeln, die bereits vorher bekannt sind. In diesem Fall ist das die Erkenntnis, daß es zum Prüfen ausreicht, bei Biertrinkern zu kontrollieren, ob sie volljährig sind, und wo man das Getränk nicht weiß, alle Minderjährigen zu kontrollieren. Diese Regel hätte man auch auf Version 1 anwenden können, jedoch war dort ihre Gültigkeit nicht ersichtlich.

Die zweite Möglichkeit ist das Bilden mentaler Modelle, die die Durchführung der Deduktion erleichtern. Im vorliegenden Fall könnte man sich vorstellen, daß alle Personen (Karten) mit einem Bier in der Hand (Kartenvorderseite) und einer Altersangabe auf dem Rücken (Kartenrückseite) dasitzen. Um die Aussage zu prüfen, muß ich also bei allen Biertrinkern den Rücken ansehen (Karte umdrehen) und bei allen Minderjährigen das Getränk (auch Karte umdrehen).

Beide Vorgehensweisen sind Tricks, die sich in der Softwaretechnik zum deduktiven Schließen ebenfalls einsetzen lassen. Hierzu müssen Software-Situationen auf bekannte andere Software-Situationen zurückgeführt werden (pragmatische Regeln) oder durch Metaphern auf andere Situationen abgebildet werden, die man leichter versteht (mentale Modelle).

2.5.5.3 Induktives Schließen

Korrekte deduktive Argumente heißen ,,deduktiv gültig`` und sind die einzigen sicheren logischen Schlüsse (Vollständige Induktion ist ein deduktives Prinzip!). Dennoch gibt es Argumente, die gut und recht zuverlässig sind, obwohl sie nicht notwendigerweise korrekt sein müssen -- es ist nur wahrscheinlich, daß sie gelten. Solche Argumente werden induktiv stark genannt. Hier ein Beispiel:

1.
Johanna hat Informatik studiert.
2.
Johanna arbeitet in der Softwareabteilung von VW.
3.
(Schluß:) Johanna arbeitet als Informatikerin.
Das Argument könnte falsch sein, denn vielleicht hat Johanna ja ihr Studium unterwegs abgebrochen oder arbeitet nicht in ihrem erlernten Beruf, sondern in einem anderen. Das ist jedoch nicht wahrscheinlich. Die Stärke solcher Argumente basiert auf den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung sowie auf unseren Erfahrungen, die die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten bestimmen. Im obigen Beispiel etwa hätten Sie vermutlich das Argument als noch stärker empfunden, wenn statt Johanna dort Johann gestanden hätte.

Wir machen solche induktiven Argumente ständig und ohne uns dessen überhaupt bewußt zu sein. Zu den dabei relevanten mathematischen Regeln gehören insbesondere die Basisratenregel und die Konjunktionsregel. Die Basisratenregel besagt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ein Objekt zu einer bestimmten Klasse gehört, umso größer ist, je größer der Anteil dieser Klasse am ganzen Universum ist. Im Beispiel also wird das Argument umso stärker, je mehr Berufstätige als Informatiker arbeiten. Das Argument würde noch besser, wenn wir als eine Prämisse noch wüßten, daß Johanna auch Mitglied der Gesellschaft für Informatik ist, denn dort ist der Anteil von Leuten, die als Informatiker arbeiten, besonders hoch.

Die Konjunktionsregel besagt, daß die Wahrscheinlichkeit einer beliebigen Aussage nicht zunehmen kann, wenn ich sie konjunktiv mit einer weiteren verknüpfe. Zum Beispiel kann obiges Argument nicht stärker werden, wenn ich die Aussage 3 erweitere zu ,,Johanna arbeitet als Informatikerin und verdient 85.000 DM im Jahr.`` Interessanterweise halten wir beim induktiven Schließen diese beiden Regeln oftmals nicht ein, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Tversky und Kahneman fanden 1973, daß Information über Basisraten manchmal schlichtweg ignoriert wird: Sie gaben Testpersonen Personenbeschreibungen von Ingenieuren und von Anwälten zu lesen und baten sie, bei jeder zu entscheiden, ob sie zu einem Anwalt oder einem Ingenieur gehört. Zwei Gruppen von Testpersonen gaben etwa gleiche Urteile ab, obwohl der einen Gruppe gesagt wurde, unter den 100 Beschreibungen seien 70 Anwälte und 30 Ingenieure und der anderen, es sei gerade andersherum. Solche Fehler werden wahrscheinlich, wenn die Basisraten nur abstrakt über Zahlen bekannt sind und weniger wahrscheinlich, wenn sie mit eigenen Erfahrungen direkt wahrgenommen werden. Aus diesem Grund sind Urteile von Praktikern oft erheblich verläßlicher als die von Theoretikern, sogar wenn die Theoretiker ein eigentlich umfangreicheres Wissen haben.

Die Konjuktionsregel wird ebenfalls manchmal verletzt, siehe das folgende Beispiel: Gegeben sei die Beschreibung

Das Pflichtenheft war vollständig in Textform abgefaßt, völlig ohne Tabellen oder Abbildungen. Es war unstrukturiert und unübersichtlich und wies zahlreiche inhaltliche Mängel und Fehler auf.
und zu beurteilen sei die Wahrscheinlichkeit der folgenden beiden Aussagen:
1.
Im Pflichtenheft waren 12 wesentliche Anforderungen nicht erfaßt.
2.
Im Pflichtenheft waren 12 wesentliche Anforderungen nicht erfaßt und weitere 9 waren unklar oder mehrdeutig formuliert.
Testpersonen schätzen die Wahrscheinlichkeit von Aussage 2 oft höher ein als die von Aussage 1, obwohl das logisch unmöglich ist. Ursache dieses Fehlers ist eine Verwechselung von Ähnlichkeit mit Wahrscheinlichkeit. Aussage 2 erscheint als eine Beschreibung, die unserem Konzept von einem schlechten Pflichtenheft näher kommt als Aussage 1. Deshalb wurde sie auch als wahrscheinlicher eingestuft, obwohl sie unwahrscheinlicher sein muss, weil sie eine zusätzliche Bedingung enthält (die bei Aussage 1 erfüllt sein kann oder auch nicht). Der gleiche Fehler kann statt mit Ähnlichkeiten mit zusätzlichen Begründungen passieren. So wird von Testpersonen die Aussage
Im Jahr 2007 wird es eine massive Überflutung in Nordamerika geben, der mehr als tausend Menschen zum Opfer fallen.
als weniger wahrscheinlich eingestuft als die Aussage
Im Jahr 2007 wird es ein Erdbeben in Kalifornien geben, das eine massive Überflutung hervorruft, der mehr als tausend Menschen zum Opfer fallen.
Letzteres ist zwar logisch weniger wahrscheinlich, erscheint uns aber subjektiv wahrscheinlicher, weil es innerhalb der Aussage durch eine Kausalbegründung plausibel gemacht wird. Wohlgemerkt: Wenn die Wahrscheinlichkeit absolut einzuschätzen ist, kann es durchaus sein und ist sogar zu erwarten, daß die Schätzung für Aussage 2 zwar unlogischerweise höher ausfällt als die für Aussage 1, jedoch absolut gesehen erheblich besser ist. Das liegt daran, daß unser Augenmerk innerhalb der Aussage 2 auf einen wichtigen Faktor zur Einschätzung der Wahrscheinlichkeit gelenkt wird, den wir bei der Abschätzung von Aussage 1 eventuell übersehen und dann die Wahrscheinlichkeit unterschätzen.

Ein weiterer wichtiger psychologischer Effekt beim induktiven Schließen ist die sogenannte Bestätigungsneigung: Wenn wir eine Hypothese aufgestellt haben und sammeln nun Informationen, um diese Hypothese zu überprüfen, neigen wir dazu, die Informationen in einer Weise falsch zu interpretieren, die zur Bestätigung der Hypothese führt. Häufiger noch wirkt sich der Effekt dahingehend aus, daß Prüfungen, deren Ergebnis zur Ablehnung der Hypothese führen könnte, unbewußt gar nicht erst gemacht werden. Dieser Effekt kommt zum Beispiel häufig beim Überprüfen von deduktiven Schlüssen zum Tragen, wo wir dazu neigen, beispielsweise beim Prüfen einer allquantifizierten Konklusion ein positives Beispiel zu suchen (,,Ja, könnte stimmen.``), was nichts über die Richtigkeit der Aussage besagt, anstatt nach einem Gegenbeispiel zu suchen (,,Ich sehe nichts, weshalb das nicht stimmen sollte.``), was gegebenenfalls, also wenn wir tatsächlich eines finden, die Falschheit der Aussage beweist.

Für die Softwaretechnik sollte man sich diese häufigen Arten von Fehlschlüssen gut klarmachen und an entsprechenden Stellen genau prüfen, ob man vielleicht gerade dabei ist, ihnen aufzusitzen. [TLR93] bestätigt beispielsweise eine beträchtliche Bestätigungsneigung für den Fall des Programmtestens.

2.5.6 Probleme lösen

Die Psychologie identifiziert drei grundsätzlich verschiedene universelle Arten des Problemlösens:

1.
Abstandsverminderung ist eine Methode, die dem Problemlösen eine räumliche Metapher aufprägt. Der momentane Zustand und der erwünschte Zielzustand werden als Orte aufgefaßt und der Problemlösungsprozeß als Weg zwischen diesen Orten. Die Abstandsverminderungsstrategie bedeutet nun, im nächsten Schritt immer die Operation auszuführen, die den Abstand zum Zielpunkt möglichst stark verkleinert. Dies führt gelegentlich in Sackgassen, in denen dann das Problem erweitert oder umformuliert werden muß, um wieder hinauszugelangen.
2.
Zweck/Mittel-Analyse funktioniert ähnlich, jedoch wird nicht eine möglichst große Abstandsverringerung angestrebt, sondern in jedem Schritt wird der wichtigste Unterschied zwischen Zustand und Ziel identifiziert, die Beseitigung dieses Unterschieds zum Unterproblem erklärt und dann ein Schritt gewählt, der die Lösung des Unterproblems anstrebt. Ab einer gewissen Verschachtelung von Unterproblemen werden diese Schritte dann einfache Abstandsverminderungsschritte sein.
3.
Rückwärtsarbeiten beginnt hingegen die Problemlösung nicht am Ausgangspunkt, sondern am Ziel. Es fragt quasi immer ,,Was müßte ich denn als letztes tun, um ans Ziel zu kommen¿` und setzt als neues Ziel dann den Ausgangspunkt dieses letzten Schrittes. Eine solche Vorgehensweise eignet sich zum Beispiel oft für mathematische oder anderweitig sehr abstrakte Probleme, bei denen man den Lösungsweg erst versteht, wenn man ihn im Ganzen sieht.

Im konkreten Einsatz von Problemlösungsmethoden gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Experten und Laien. Der wohl wichtigste besteht im Vorhandensein reicher Repräsentationen: Experten verfügen über problemspezifische Darstellungsweisen für Zustände und komplexe Operationen, die eine erheblich einfacheren geistigen Umgang mit den möglichen Lösungsschritten vor ihrer Durchführung erlauben. Solche Repräsentationen ermöglichen eine so starke Kompression der zu handhabenden Problemgegenstände, daß Denkoperationen durchgeführt werden können, die ohne Kompression zum Beispiel aufgrund der begrenzten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses unmöglich wären. Der Weg, auf dem ein werdender Experte zu solchen Repräsentationen gelangt, ist die Ausbildung einer großen Zahl nützlicher Konzepte, die überwiegend das typische Zusammenwirken anderer Konzepte beschreiben.

Zwei weitere Unterschiede im Vorgehen zwischen Experten und Laien können eher als Symptome für bei den Laien fehlendes Problemlösungswissen gedeutet werden: So haben oder machen Experten fast immer einen Plan, bevor sie mit einer Problemlösung beginnen, gewissermaßen eine Handskizze, die den Weg zum Ziel beschreibt. Dieser Plan erleichtert dann unterwegs die Orientierung und vermeidet ein Abgleiten in irrelevante Bereiche. Ferner wenden Laien wesentlich häufiger als Experten das Rückwärtsarbeiten an, ein Zeichen für ihre Unfähigkeit, wichtige Unterprobleme zu identifizieren.

Auch hier wieder ist der Nutzen dieser Erkenntnisse für die Softwaretechnik, daß die bewußte Kenntnis der Methoden eine angemessenere Auswahl in einer gegebenen Situation erlaubt und die bewußte Kenntnis von nützlichen geistigen Werkzeugen ein gezielteres Hinarbeiten auf deren Erwerb.


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Lutz Prechelt
1999-04-13