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Unterabschnitte

2.4 Gedächtnis

Bei der Diskussion des Gedächtnisses ist zu unterscheiden zwischen dem sensorischen Gedächtnis (mit Speicherdauer im Subsekundenbereich), das als Teil des Wahrnehmungsapparats verstanden werden kann und deshalb hier nicht diskutiert wird, dem Kurzzeitgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis. Gedächtnisbenutzung läuft grundsätzlich in drei Phasen ab, nämlich Kodierung, Speicherung und Abruf.

Eine weitere Unterscheidung betrifft die Art der gespeicherten Information: Fakten speichern wir im expliziten Gedächtnis, motorische Fertigkeiten im impliziten Gedächtnis. Letzteres soll uns hier ebenfalls nicht interessieren.

2.4.1 Kurzzeitgedächtnis

Die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses beträgt etwa sieben Objekte. Der Wert schwankt von einem Individuum zum anderen nicht mehr als um etwa plus oder minus zwei. Das bedeutet, daß wir eine willkürliche Folge von Ziffern der Länge 5 noch im Kurzzeitgedächtnis behalten können, beispielsweise 2 7 6 4 9, von einer Folge der Länge 15, beispielsweise 2 7 6 5 8 3 7 5 8 4 3 6 6 7 5, jedoch nur Bruchstücke. Versuchen Sie es. Jede Folge darf nur einmal durchgelesen werden und ist dann wiederzugeben.

Die Speicherdauer im Kurzzeitgedächtnis ist bei nur einmaliger Einspeicherung nur sehr kurz, einige Sekunden. Wollen wir den Inhalt länger behalten, so müssen wir ihn im Geiste wiederholen. Das gelingt am einfachsten bei sprachlicher Information, etwas schwieriger bei anderen Informationsarten. Wenn wir keine besonderen Vorkehrungen treffen, wird das Kurzzeitgedächtnis nach Art einer Schlange verwaltet. Das erste Objekt, das die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses übersteigt, wird also dasjenige Objekt aus dem Kurzzeitgedächtnis verdrängen, welches schon am längsten dort ist. Dem kann man begegnen, indem man die Inhalte selektiv wiederholt, wobei sie jedesmal wie neu eingespeichert behandelt werden, so daß sich wählen läßt, welches Objekt als erstes verdrängt werden soll.

Die gespeicherten Objekte müssen nicht unbedingt so elementar sein wie die Ziffern im vorigen Beispiel, denn die Information wird in sogenannten Bündeln (chunks) gespeichert, deren Beschaffenheit sich danach richtet, was für Inhalte das Langzeitgedächtnis zur Verfügung stellt. Ein Bündel ist jedenfalls eine semantische Einheit, ein Konzept. Dafür kommen beispielsweise Wörter in Frage. Eine Folge von fünf willkürlich gewählten bekannten Wörtern ist ebenso leicht oder schwer zu merken, wie eine Folge von fünf Ziffern oder fünf Buchstaben, obwohl die fünf Wörter zusammen wesentlich mehr als sieben Buchstaben umfassen. Bei einer langen Wortliste von mehr als neun Wörtern wird der Versuch ebenso unmöglich wie bei einer langen Buchstabenliste.

Hier ein Beispiel (wieder ist nur einmaliges Durchlesen erlaubt):

divers ein Experiment hat Kapazität Kurzzeitgedächtnis minus Objekt plus sieben unser von zufolge zwei.
Vermutlich ist ihnen hierbei schon aufgefallen, daß Sie bemüht waren, einen Zusammenhang zwischen diesen Wörtern herzustellen, und Ihnen das auch zum Teil gelungen ist. Ohne einen solchen Zusammenhang haben sie keine Chance, alle Wörter korrekt wiederzugeben, mit Hilfe des Zusammenhangs können sie vermutlich bis auf kleine Fehler alle behalten. Der korrekte Satz lautet:
Diversen Experimenten zufolge hat unser Kurzzeitgedächtnis eine Kapazität von sieben Objekten, plus oder minus zwei.
und Sie haben wenig Schwierigkeiten, den ganzen Satz im Kurzzeitgedächtnis zu behalten, obwohl er erheblich länger ist als 9 Wörter (nämlich 15). Dies zeigt, daß es noch höhere Ebenen von Bündelbildung geben kann als Wörter und mit Hilfe dieser Ebenen die effektive Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses noch erheblich weiter gesteigert werden kann.

Die Folgerung aus diesen Tatsachen für die Softwaretechnik lautet, daß Sie als Softwareingenieure, Programmanwender oder Trainer versuchen sollten, möglichst leistungsfähige Abstraktionen im Langzeitgedächtnis auszubilden, damit ihr Kurzzeitgedächtnis eine höhere Leistungsfähigkeit zur Durchführung von Problemlösungsaufgaben erhält.

Ein beeindruckendes Beispiel für die Leistungsfähigkeit solcher Abstraktionen liefert das folgende berühmte psychologische Experiment: DeGroot ließ 1965 seine Versuchspersonen Schachstellungen auf Schachbrettern kurz betrachten und dann aus dem Kurzzeitgedächtnis wiedergeben. Wie erwartet konnten sehr gute Schachspieler dabei oftmals alle Figuren, immer aber ziemlich viele, korrekt wiedergeben. Schachanfänger hingegen konnten sich immer nur an sehr wenige Figuren korrekt erinnern. Stellte man die Figuren nun aber willkürlich auf das Brett, anstatt eine echte Stellung aus einem Schachspiel vorzugeben, so sank die Leistung der guten Spieler auf das Niveau der Anfänger ab; die Anfänger waren in beiden Fällen gleich gut. Dies zeigt, daß problemspezifische Abstraktionen und Muster im Langzeitgedächtnis die effektiv für einen bestimmten Zweck verfügbare Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses vervielfachen können. Im Falle des Schachspiels sind diese Abstraktionen häufig auftretende Kombinationen von Positionen mehrerer Figuren, die ein konzeptuelles Bündel bilden.

Im Falle der Softwaretechnik können solche höheren Abstraktionen auf diversen Ebenen auftreten: typische Anweisungsmuster aus mehreren Teilen, z.B. eine Schleife oder eine Rekursion, typische Verfahrensmuster in Algorithmen, z.B. Teilen-und-Herrschen, typische Entwurfsmuster, z.B. Datentypen mit Konstrukturen, Selektoren und Iteratoren, typische Namen für solche Operationen, typische Aktionsfolgen zur Durchführung einer Aufgabe und so fort. Ein Erkennen solcher Muster ermöglicht die Speicherung einer wesentlich höheren Gesamtzahl von Fakten im Kurzzeitgedächtnis und damit die Möglichkeit, viele Aufgaben sehr viel schneller und sicherer zu erledigen, weil keine externen Speicher wie Zettel oder Dateien mehr zu Hilfe genommen werden müssen bzw. keine Fehler auftreten, die sonst die Erledigung der Aufgabe gefährden.

Eine weitere Möglichkeit zur Verbesserung ergibt sich aus der Beobachtung, daß offenbar jedes sensorische System über ein eigenes Kurzzeitgedächtnis verfügt. Bislang sind nur das Sprach-/Hörsystem und das visuelle System eingehend erforscht und der Beweis zweier getrennter Kurzzeitgedächtnisse für verbale und visuelle Informationen erbracht, aber vermutlich gibt es weitere Kurzzeitgedächtnisse für Geräusche, für Gerüche/Geschmäcke und für Tastempfindungen.

Sprachliche Informationen werden im sogenannten phonologischen Kurzzeitgedächtnis gespeichert und zwar unabhängig davon, ob sie visuell oder akustisch angeliefert worden sind. Demgegenüber werden nichtsprachliche visuelle Informationen im visuellen Kurzzeitgedächtnis gespeichert.

Das bedeutet, daß eine gleichzeitige Nutzung der beiden Kurzzeitgedächtnisse und eine damit einhergehende Erhöhung der Speichermöglichkeit erreicht werden kann, wenn für die Darstellung der Information kombinierte sprachliche und graphische Darstellungsweisen gewählt werden, vorausgesetzt, die graphischen Teile werden nicht sprachlich interpretiert sondern bildlich. Diese Erkenntnis ist von Belang für den Entwurf von Benutzerschnittstellen aller Art, Programmiersprachen, Entwurfsmethoden etc. Dabei ist allerdings zu beachten, daß visuell gespeicherte Informationen weniger genau sind als sprachlich gespeicherte. Es sollten daher in hybriden Methoden möglichst Vorkehrungen gegen Fehler in der visuellen Speicherung getroffen werden, z.B. indem man kritische visuelle Information zusätzlich noch einmal sprachlich einbringt.

2.4.2 Langzeitgedächtnis

Während die Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses als Aktivierungen von Neuronen gespeichert werden (also als Hirnaktivität), sind die Inhalte des Langzeitgedächtnisses in Form von Verbindungen zwischen Neuronen gespeichert (also als Hirnstruktur) -- die genaue Wirklichkeit ist leider noch um einiges komplizierter und deshalb noch nicht voll bekannt, aber dies ist der grundsätzliche Mechanismus.

Dieser Mechanismus begründet auch die zwei wichtigsten Eigenschaften des Langzeitgedächtnisses. Es hat eine unbegrenzte Speicherdauer und eine fast unbegrenzte Kapazität. Eine dritte Eigenschaft ist von Bedeutung, kann aber nicht ganz so leicht erklärt werden. Dies ist die Tatsache, daß für die Übertragung von Informationen ins Langzeitgedächtnis offenbar nur eine sehr geringe Bandbreite zur Verfügung steht. Innerhalb einer gegebenen Zeit kann man sich also nur relativ wenige Dinge neu langfristig merken. Auch hier ist die Wirklichkeit wieder recht kompliziert, weil die Bandbreite von der Speicherdauer abhängt. Wir können uns relativ viel innerhalb kurzer Zeit für einige Stunden oder Tage einprägen, aber nur wenig, was wir das ganze Leben lang behalten. Dies liegt daran, daß die Umsetzung von Informationen in Hirnstrukturen ein Prozeß ist, der mehrere Wochen dauert, während derer die Informationen auf andere, noch flüchtige Weise zwischengespeichert werden.

Die Funktionalität des Langzeitgedächtnisses besteht aus zwei Teilen. Erstens können wir Dinge wiedererkennen und zweitens sind zu diesen Dingen eine Vielzahl von Beziehungen abgespeichert, vor allem semantische wie zahlreiche Varianten von ``Teil von'' oder von ``ist ein'', sowie zeitliche und örtliche wie die Abfolge von Ereignissen in einer Geschichte oder Ziffern in einer Telefonnummer.

Die Speicherung erfolgt immer in möglichst abstrakter Form, weil damit auf sehr viele Details verzichtet werden kann und weniger Platz benötigt wird. So könnte zum Beispiel nach dem Lesen eines Handbuchs die Information, daß man zum Verlassen eines bestimmten Programms Ctrl-Q drücken muß, im Langzeitgedächtnis haftenbleiben, aber es ist vielleicht nicht mehr zu rekonstruieren, ob dort gestanden hatte ``Zum Verlassen geben Sie Ctrl-Q ein.'' oder aber ``Wenn Sie das Programm verlassen möchten, so drücken sie die Taste 'Ctrl', halten Sie sie fest und drücken sie dann gleichzeitig die Taste Q.''. Obwohl die beiden Sätze sehr unterschiedlich sind, werden sie im Langzeitgedächtnis auf dieselbe Repräsentation abgebildet, weil die Abstraktion des Betätigens einer Control-Taste bereits verfügbar war und die Details der Formulierung ohnehin nicht von Bedeutung sind.

Dieser Mechanismus bedeutet umgekehrt, daß es für die Leichtigkeit, mit der etwas behalten werden kann, einen großen Unterschied macht, was für Abstraktionen zur Repräsentation des zu Erinnernden zur Verfügung stehen -- und dann auch verwendet werden, denn das geschieht nur zum Teil automatisch; zu einem anderen Teil ist es eine bewußte Anstrengung, die als Elaboration bezeichnet wird. Je gründlicher die Elaboration, desto besser die Erinnerung.

Auf die Softwaretechnik bezogen heißt das, daß nicht nur, wie oben bereits erwähnt das Lernen, sondern auch das Behalten komplexer Konzepte erheblich erleichtert wird, wenn geeignete Vorbildung vorhanden ist. Deshalb sollte man auf die Vermittlung von Basiskonzepten, die hinter Produkten oder Prozessen stehen, immer großen Wert legen und den Zusammenhang eines Faktums mit diesen Basisabstraktionen jeweils verdeutlichen.

Experimente haben außerdem ergeben, daß Fakten, zu denen eine Erläuterung oder Begründung mitgeliefert wurde, besser wieder korrekt abgerufen wurden als andere, die ohne Begründung gelernt wurden. Das beruht vermutlich darauf, daß die Begründung einen weiteren Abrufpfad zum gewünschten Faktum eröffnet: Das Faktum konnte direkt erinnert werden oder aber die Begründung wurde gefunden und von dort aus das Faktum.

Dasselbe Prinzip liegt fast allen mnemonischen Systemen zugrunde. Es werden zusätzliche Pfade geschaffen, über die die gewünschte Information abgerufen werden kann. Besonders hilfreich in dieser Hinsicht sind Taxonomien, also hierarchische Ordnungen von Begriffen.

Andere Methoden bestehen zum Beispiel in der Erzeugung von Geschichten, die mehrere zu merkende Einzelteile miteinander verbinden, in der Erzeugung bildlicher Darstellungen von zwei oder mehr zu verbindenden Einzelteilen oder der Erzeugung von Merkreimen. Alle diese Methoden werden jedoch mit zunehmender Komplexität der zu merkenden Information immer schwieriger anzuwenden.

Eine Methode, die sich auch auf komplizierte Informationen anwenden läßt, ist die der Schemata. Ein Schema ist eine Art Schablone, in die Informationen einer gewissen Art eingetragen werden können. Die Schablone selbst repräsentiert mit einigen Lücken den Normalfall eines solchen Informationsblocks. Die Lücken müssen mit konkreten, aber wenig umfangreichen Informationen gefüllt werden. Um uns den gesamten Informationsblock zu merken, müssen wir uns dann nur noch die Abweichungen vom Normalfall merken, der ganze Rest steckt im Schema selbst, das nur einmal für alle seine zahlreichen Anwendungen im Gedächtnis sein muß.

Ein Beispiel wäre etwa ein Schema, das den Aufbau eines Kapitels in diesem Skript beschreibt. Das Schema besagt, daß es üblicherweise die Abschnitte ``Einordnung und Ziele'', ``Ansätze'', ``Ergebnisse'' und ``Probleme'' gibt, gefolgt von einer Reihe von Abschnitten über Techniken. Das Schema trifft nicht auf alle Kapitel zu, zum Beispiel nicht auf das vorliegende, macht es aber dennoch um einiges leichter, die Struktur jedes Kapitels ins Gedächtnis zu speichern, verglichen mit der Situation, in der die Gemeinsamkeiten in den Kapitelstrukturen nicht bemerkt werden und kein Schema gebildet wird. Um sich die Struktur eines Kapitels zu merken, muß man sich nun nur die Namen der Techniken merken, sowie ob irgendwelche Abschnitte ausnahmsweise entfallen oder umgestellt sind.

Wir alle verwenden Schemata andauernd und ohne uns dessen auch nur bewußt zu sein. Sie lassen sich jedoch wie gerade verdeutlicht auch gezielt einsetzen, um komplizierte Informationen stark zu komprimieren und leichter merken zu können.

Eine letzte wichtige Erkenntnis aus der Psychologie zum Thema Langzeitgedächtnis betrifft die Bedeutung des inhaltlichen Kontextes bzw. auch der räumlichen Umgebung für das erfolgreiche Abrufen von Erinnerungen. Godden und Baddeley prüften 1975 die Auswirkungen eines Umgebungswechsels auf die Erinnerung, indem sie Taucher eine Liste von Wörtern am Strand lernen ließen und andere Taucher im Wasser. Beide Gruppen konnten am jeweils gleichen Ort (Strand oder Wasser) die Wörter etwa gleich gut wieder abrufen. Sollten jedoch die Im-Wasser-Lerner am Strand abrufen oder umgekehrt, so sank die Abrufleistung um 40 Prozent!

Dieser Effekt kommt daher, daß unbewußt Elemente der Umgebung verwendet werden, um daran Assoziationen zu den zu merkenden Informationen zu befestigen, was das Abrufen der Informationen nur dann erleichtert, wenn diese Elemente zum Abrufzeitpunkt als Anregungen verfügbar sind. Der Effekt tritt nicht nur im Bezug auf örtliche Umgebungen, sondern auch für situative Kontexte auf. Letztere schließen auch Aspekte der internen Situation ein, z.B. die Gefühlslage oder kurz zuvor gemachte Erlebnisse. Als Folgerung sollte das Lernen von softwaretechnischem Wissen und Fertigkeiten nach Möglichkeit in anwendungsnahen Situationen und Räumen erfolgen, um den späteren Abruf zu optimieren. (Das für die Universität typische Lernen im Hörsaal ist insofern also grundsätzlich erschwert, es sei denn im Hinblick auf eine Klausur, die im gleichen Hörsaal geschrieben wird.)


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Lutz Prechelt
1999-04-13