8.4 Probleme und Hindernisse

Die Schwierigkeiten bei der Anforderungsbestimmung rühren im wesentlichen daher, daß sie ein Prozeß ist, der erstens von Menschen durchgeführt wird und sich zweitens mit einem beträchtlichen Teil der Komplexität der von Menschen gestalteten Welt herumplagen muß. Im Unterschied zum Softwareentwurf oder zur Softwareimplementation kann diese Komplexität aber hier nur wesentlich schwieriger mit Mitteln der Formalisierung, Abstraktion und Automation beherrscht werden, weil die Anforderungsbestimmung ja gerade diese Abstraktion erst ermitteln soll.

Die meisten der Schwierigkeiten sind oben bereits angesprochen worden, deshalb hier nur noch einmal kurz und in einer anderen Sichtweise: Es gibt vier grundsätzliche Bereiche, in denen Schwierigkeiten auftreten, nämlich das Verständnis des Anwendungsbereichs, die Kommunikation, das soziale Zusammenwirken der Beteiligten und das Projektmanagement.

Dies sind die Probleme beim Verstehen des Anwendungsbereichs:

• Die Anwender kennen zwar ihren Arbeitsbereich, können aber die darin vorhandenen Probleme, die eine DV-Lösung erlauben, nicht erkennen.
• Auch wo Anwender ihre Probleme erkennen, sind sie oft nicht in der Lage, eine vorgeschlagene DV-Lösung zu beurteilen und konstruktiv zu kritisieren.
• DV-Lösungen, die sehr anders strukturiert sind als die bisherige Arbeitsweise, oder die ganz neue Arbeiten einführen, übersteigen oft das Vorstellungsvermögen der Anwender und eventuell auch der Entwickler.
• Entwickler verstehen viele der Abstraktionen nicht, die der Anwender zur Beschreibung von Anforderungen benutzt, weil ihnen Verständnis für den Anwendungsbereich fehlt.
• Entwickler haben oft ein fast nur technisches Interesse und versagen dabei, eine nichttechnische Anforderung zu erkennen, zu verstehen und umzusetzen.

Dies sind die wichtigsten Kommunikationsprobleme:

• Anwender und Entwickler haben völlig verschiedene Begriffswelten und Erfahrungshintergründe, oftmals gar mit verschiedenen Begriffen hinter dem gleichen Wort.
• Sie sind verschiedene Beschreibungsmethoden und Notationen gewöhnt.
• Sie haben Schwierigkeiten, sich auf ein Abstraktionsniveau zu einigen, weil sie nicht genau verstehen, welches der andere gerade benutzt oder benutzen will.

Ferner gibt es oft auch soziale Hindernisse:

• Verschiedene Einzelpersonen oder Gruppen unter den Anwendern haben unterschiedliche, eventuell widersprüchliche Interessen. In manchen Fällen ist dies das größte Problem bei der Anforderungsdefinition; vor allem, wenn die Konflikte verwischt statt gelöst werden.
• Anwender sehen oftmals die Notwendigkeit der Anforderungsbestimmung nicht ein, weil sie glauben, daß die Aufgabenstellung klar sei. Sie haben meist kein Interesse an Details, die aber zur Softwareentwicklung entscheidend wichtig sind.
• Die Entwickler haben oft keine Leistungsanreize, die direkt an der Kundenzufriedenheit orientiert sind.
• Entwickler haben oft ein hinderliches Überlegenheitsgefühl gegenüber den Anwendern.

Schließlich gibt es auch technische Probleme bei oder aufgrund der Anforderungsanalyse, die man im weiteren Sinne einem geschickten Projektmanagement zuordnen kann:

• Bei Fertigsoftware wird der Erfolg oft nicht von der Befriedigung der tatsächlichen Anwenderbedürfnisse bestimmt, sondern von den eventuell davon recht verschiedenen Anforderungen des Marktes. Dadurch gewinnen zusätzliche Aspekte wie Zeit bis zum Markteintritt, werbewirksame Features (ob nützlich oder nicht), Anpassung an Produktprofil der Firma etc. eine erhebliche Bedeutung, die bei der Anforderungsbestimmung zu berücksichtigen ist.
• Ein Entwicklungsprozeß, der mit unvollständigen oder sich ändernden Anforderungen umgehen muß, ist kompliziert und teuer. Deshalb muß die Anforderungsanalyse zumindest an den entscheidenden Stellen diese Schwierigkeiten weitmöglichst reduzieren.
• Die stark kostensenkende Einbindung umfangreicher Fertigkomponenten in ein Softwaresystem hat oftmals Rückwirkungen auf die realisierbaren Anforderungen oder zumindest deren Form. Diese müssen bei der Anforderungsbestimmung ausdrücklich berücksichtigt werden.