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5.9 Probleme und Hindernisse

Prozeßverbesserung nach dem CMM oder einem verwandten Modell hat zwei Hauptschwierigkeiten, die wir hier besprechen wollen. Erstens ist es schwierig und zweitens kann es unerwünschte Nebenwirkungen haben.

Die Schwierigkeit von Prozeßverbesserung ist recht offensichtlich: Eine ganze Organisation mit sehr komplexen Arbeitsabläufen muß unter genaue Kontrolle gebracht werden, wobei die beteiligten Individuen oftmals sehr eigenwillig reagieren und sich nur ungern irgendwelchen Regelungen unterwerfen. Kein Wunder, daß da oft die Erwartungen die Wirklichkeit übertreffen.

In der obenerwähnten Studie [HG96] finden sich folgende Angaben über die Wirkungen der CMM-Bewertung: 26% der Befragten stimmten der Aussage zu, es habe sich durch die Bewertung wenig geändert, 49% fanden, es gebe bei ihnen eine Menge Desillusionierung wegen der Resultate; allerdings widersprachen 84% der Aussage, die Softwareprozesse seien durch CMM zu bürokratisch oder unflexibel geworden. Bei 42% waren die Verbesserungsbemühungen durch besondere Ereignisse oder Krisen abgewürgt worden, und bei 72% waren sie zumindest beeinträchtigt aufgrund von Zeit- und Ressourcenbeschränkungen.

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77% sagten, die Verbesserungen dauerten länger und 68% sagten, sie kosteten mehr als zunächst erwartet. 67% wünschten sich mehr Hilfe in der Frage, wie Verbesserungen erreicht werden können. Die ganze Unternehmung ist also alles andere als einfach. Nach den Erfahrungen des SEI dauert es normalerweise bei einem richtig eingefädelten Prozeßverbesserungsprogramm etwa 1 bis 2 Jahre, bis eine Organisation die nächsthöhere Reifestufe erreicht. Dies sind allerdings alles Einstiegsschwierigkeiten, die irgendwann überwunden werden.

Kritischer noch sind die Gefahren, die in der Verselbständigung der Bemühungen zur Prozeßverbesserung liegen. Hohe Prozeßreife ist eigentlich ein Mittel zum Zweck, nämlich gut Software herzustellen, kann aber leicht als Selbstzweck mißverstanden werden. Das führt dann unmittelbar dazu, daß die einzelnen Maßnahmen dazu neigen, sich etwas von den Zielen der Produktivitäts- und Qualitätsverbesserung abzulösen und nur noch auf bessere Kontrolle an sich, auf genauere Vorhersage an sich und auf präziseres Messen an sich abheben. Mittelbar ergibt sich aus dieser Verselbständigung noch eine gefährlichere Konsequenz, nämlich Risikoscheu.

Eine hohe Reifestufe nach dem CMM setzt voraus, daß der Entwicklungsprozeß gut verstanden und beherrscht wird. Das ist natürlich insbesondere nur dann möglich, wenn man genau weiß, was alles in welcher Reihenfolge und unter welchen Bedingungen zu tun sein wird. Dieses Wissen wiederum ist aber nur gegeben, wenn die Organisation bereits Erfahrung auf dem Gebiet hat, in dem die Software entwickelt werden soll, oder wenigstens auf einem verwandten. So ist eine Organisation, die hervorragend interaktive Einzelplatzanwendungen wie Textverarbeitungen, Tabellenkalkulationen etc. herstellen kann und dabei eine hohe Reifestufe in ihrem Prozeß hat, noch lange nicht in der Lage, die Entwicklung einer Echtzeitanwendung, eines Betriebssystems oder einer verteilten Datenbank mit hoher Prozeßreife zu betreiben. Will diese Organisation auf einem solchen neuen Gebiet Software entwickeln, muß sie damit rechnen, von ihrer Prozeßreifestufe, welche auch immer das ist, auf Stufe 2 oder gar 1 abzufallen, weil einfach kein definierter Prozeß vorliegt, der für diese unbekannten Anwendungsgebiete brauchbar wäre.

Auch schon die Integration neuer technischer Ansätze in die Produkte des vertrauten Bereichs kann die Prozeßreife zum Absturz bringen. Beispiele hierfür wären vor einigen Jahren die Einführung graphischer Benutzerschnittstellen gewesen, vor etwas kürzerer Zeit die Integration von neuronalen Netzen oder Fuzzy Logic, oder jüngst die Anbindung an HTML und das WWW; viele andere Beispiele ließen sich finden.

Die Gefahr von Prozeßverbesserungsanstrengungen liegt nun darin: Eine Organisation mit hoher Prozeßreife hat wahrscheinlich sehr wenig Neigung, diese Prozeßreife einem risikoreichen neuartigen technischen Unterfangen zu opfern. Tut sie es aber nicht, kann diese Entscheidung oftmals hohe Gewinnmöglichkeiten vereiteln. Es ist nämlich zu beobachten, daß der Profit, der sich aus gutbeherrschten Anwendungen ziehen läßt, immer mehr sinkt, weil alle sehr nutzbringenden Anwendungen in diesem Bereich längst vorhanden sind und das, was wir heute noch dazubauen, nur einen geringen Zusatznutzen aufweist. Andererseits können Organisationen, die mit hohem Risiko einen ganz neuen Bereich erschließen, dort oft noch hohe Marktanteile und dementsprechend hohe Gewinne erzielen. Deshalb ist Risikobereitschaft gerade im Softwarebereich eine wichtige Eigenschaft und Prozeßverbesserung steht ihr tendenzell entgegen.


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Lutz Prechelt
1999-04-13