Nur noch und nur mehr

Es wird auch nicht viele Deutsche geben, die den Unterschied von »nur noch« und »nur mehr« zu hören und eigentlich zu sehen vermöchten. Spürt man nur einmal, dass einer vorhanden ist, so wird man im Durchdenken dieser Schwierigkeit zu dem Punkt kommen, wo diese n u r  n o c h zu formulieren bleibt und n u r  m e h r als eines der Rätsel erscheint, für das die Sprachwissenschaftler keine Lösung wissen, denn wenn sie überhaupt erwähnen, dass es die eine oder die andere Fügung gibt, wie wohl es sie doch unaufhörlich gibt, so scheint sie ihnen, etwa Sanders in seinen »Hauptschwierigkeiten der deutschen Sprache«, selbst eine solche zu bereiten, und sie entgehen der Alternative, vor die man doch immer wieder gestellt ist (wenn man die Fähigkeit hat, hier einen Unterschied zu vernehmen) einfach dadurch, dass sie die beiden Werte gleichstellen und es offenbar der Laune überlassen, die Wahl zu treffen. Es wird indes an dem hier eingewobenen Beispiel schon klar geworden sein, welch ein wesentlicher Unterschied da besteht. »Nur noch« bezeichnet das Stadium einer Verminderung mit deutlicher Betonung eben dieses Prozesses, lässt also die Subtraktion miterleben, nach der n u r  n o c h das Bezeichnete übrigbleibt. Jedoch jenseits dieser Entwicklung, wenngleich infolge einer ganz anderen, abgeschlossenen und nicht mehr angeschauten ist es n u r  m e h r ein anderes. Im »nur noch« ist ein Gewordenes, im »nur mehr« ein Seiendes betont. »Nur mehr« bezeichnet kein Stadium, sondern nur (in diesem Vergleich wieder: n u r  n o c h) das greifbare Resultat eines nicht soeben erlebten Vorgangs, also nicht das einer Vermindernng, sondern eher einer Verwandlung, eines Wechsels, der ein Größeres betroffen hat, das n u r  m e h r ein Kleines ist. (Im »nunmehr« wird das Resultat anschaulich.) Hier tritt der Unterschied des Grades, dort die Graduierung hervor. Mithin: »Ich bin nur noch der Schatten der Maria«. Aber etwa: »Ich bin keine Königin, sondern nur mehr eine Gefangene«. »Nur noch« ist ein Imperfektum, es ergänzt die unvollendete Vergangenheit; »nur mehr« ist ein Perfektum, es setzt die vollendete Gegenwart fort. Auf die Frage, was sich bei einem Brand begeben habe: »Ich weiß n u r  m e h r, dass die Feuerwehr kam, als ich bewusstlos wurde; anderes weiß ich heute n i c h t  m e h r.« Doch auf die Frage, ob man mit den Eintretenden noch sprechen konnte: »Ich wusste n u r  n o c h, dass Leute kamen.« Hier könnte freilich ergänzt werden: »M e h r wusste ich nicht oder nicht mehr«, indem da wieder das Resultat allein greifbar wird. Im Negativen fließen die beiden Begriffe zusammen: Ich weiß nicht mehr, was geschehen ist = ich habe kein Bewusstsein davon, und: ich wusste nicht mehr, was geschah = ich verlor das Bewusstsein. »Nicht mehr« dient also der Negation des »nur noch« wie des »nur mehr«; obschon jene ihre genauere Deckung eigentlich in einem »nicht w e i t e r« (»nichts weiter«) erfahren könnte, wobei wieder, zum Unterschied von »nicht mehr« die Entwicklung inbegriffen wäre. (»Mehr« enthält seinem Wesen entsprechend, das in die Vergangenheit zurückschlägt, im Gegensatz zu »noch«, das in die Zukunft weist, eine Negation und hat auch den Anschluss an die Negation.) Im Positiven gehen die Begriffe deutlicher auseinander. »Nur noch« bedeutet einen Rest, »nur mehr« ein Minus. Da in jenem mehr der Begriff der Veränderung vorwaltet, in diesem mehr der Begriff des Andersseins, so wird der Unterschied sich am ehesten mit dem zwischen einer Bewegungsdifferenz und einer Zustandsdifferenz decken, zwischen einem »erreichen« und einem »haben«, einem »werden« und einem »sein«. »Es bleibt nur noch übrig, etwas zu tun«: das andere ist schon geschehen. »Es bleibt nur mehr übrig, etwas zu tun«: anderes lässt sich nicht tun. (Wieder die Negation.) Man spürt, wie sich dieselbe Handlung in verschiedener Gefühlssphäre abspielt. Dem mechanischen, planmäßigen »tun« steht eines gegenüber, zu dem sich die Erkenntnis des Augenblicks, die Resignation entschließen mag. Ganz anschaulich wird das an dem folgenden Beispiel. »Es bleibt nur noch übrig, ihn zu begraben«: nachdem alle vorbereitenden Handlungen erfüllt sind. »Es bleibt nur mehr übrig, ihn zu begraben«: weil sonst nichts deres übrig bleibt, weil man ihn ja doch nicht zum Leben erwecken wird oder — wobei der Gefühlston zur Metapher wird — weil er nicht mehr lebensfähig ist. »Er braucht nur noch kurze Zeit, um dort zu sein« ist von einem Zeitpunkt bezogen, von dem an die Absicht betätigt wird, dorthin zu gelangen. »Er braucht nur mehr kurze Zeit, um dort zu sein« wäre auf eine Leistung bezogen, die sich heute schneller bewältigen lässt als ehedem unter anderen Umständen. »Er braucht nur noch wenig Geld«: zu dem, was er schon bekommen hat. »Er braucht nur mehr wenig Geld«: er gibt heute weniger aus als früher. »Er muss ihm nur noch hundert Kronen geben«: von einer Schuld, die abgezahlt wird. »Er muss ihm nur mehr hundert Kronen geben«: während er ihm früher, etwa als Rente, mehr geben musste. Streng gefasst, wäre dort eine durch den zeitlichen Ablauf bestimmte Veränderung der Quantität, hier ein im zeitlichen Ablauf dargestellter Unterschied der Quantitäten betont. Die einfachste Begriffsbestimmung, zu der aber erst nach den schwierigeren zu gelangen möglich ist, wird wohl die sein, dass »nur noch« die Differenz innerhalb einer und derselben abnehmenden Handlung (Teilstrecke im Vergleich zur ganzen), »nur mehr« die Differenz zweier verschiedenen Handlungen (kurze Strecke im Vergleich zur langen) bedeutet; also jenes den Vergleich innerhalb einer Handlung, dieses den Vergleich mit einer anderen Handlung. Etliche Grammatiker sollen »nur mehr« als Austriazismus bezeichnen. Aber ein solcher ist bloß die falsche Anwendung in den Fällen, wo »nur noch« zu stehen hat. In der Welt der Vorstellungen dürfte diese Form viel häufiger gerechtfertigt sein als die andere, aber der Österreicher kennt sie überhaupt nicht und gebraucht »nur mehr« für beide Vorstellungstypen, also vorwiegend falsch. »Nur noch« kann er gar nicht aussprechen. Den Fall, dass er nur noch zehn Minuten ins Amt braucht: weil er schon den größeren Teil der Strecke zurückgelegt hat, unterscheidet er nicht von dem Fall, dass er nur mehr zehn Minuten ins Amt braucht: weil er übersiedelt ist und jetzt einen kürzern Weg zurückzulegen hat. Er schaut auf die Uhr und sagt auch in jenem Fall: »Jetzt sinds nur mehr zehn Minuten«. Also auch dort, wo die Beobachtung unterwegs angestellt ist und sich nicht auf den Vergleich zwischen den Wegen bezieht. Österreich hat nur mehr sechs Millionen Einwohner: nach der Auflösung der Monarchie, gegen früher. Wenn der Österreicher es sagt, glaubt man, dass er auch die zu verlieren fürchtet.